Jutta H.E. Krause / Jutta Krause: meine literarischen Impressionen

(Der Baobab ist ein afrikanischer Baum, welcher in Afrika eine wichtige mythische Bedeutung besitzt).  

In längst vergangenen Zeiten, als Tiere und Menschen noch miteinander sprechen konnten, lebte einmal ein uralter Mann am Rande eines kleinen Dorfes. Niemand wusste, wie alt er war, denn zu jener Zeit gab es noch keine Geburtsurkunden und keine Standesämter, und der Mann selbst wusste auch nicht, wie alt er war.

Eines Tages aber wurde er sehr krank. Und da er immer einsam für sich gelebt hatte, gab es auch niemanden, der ihm half und ihn pflegte.

So lag er auf dem schmalen Bett in seiner Hütte und wartete auf sein Ende.

Da geschah es, dass an einem Morgen, als die aufgehende Sonne ihm schon wieder einen neuen schmerzvollen Tag ankündigte, eine kleine Schwalbe durch die geöffnete Hüttentür flatterte und sich flügelschlagend zu ihm auf das Bett setzte. - „In einem fernen Land“, sagte sie mit zarter Stimme, „gibt es einen Baum. Von dem erzählen sich Menschen und Tiere, dass er eine jede Krankheit heilen kann.“

Der Mann hörte diese Worte, und plötzlich erwachte in ihm wieder etwas von seinem einstigen Lebensmut. „Dann, kleine Schwalbe“, sagte er, „zeig mir den Weg dorthin!“ - Mit letzter Kraft zimmerte er sich ein Boot, ließ es zu Wasser und fuhr auf ihm den Fluss hinunter, bis er den Ozean erreichte. Die Schwalbe aber flatterte ihm voran. - So segelte er über das unendlich weite Meer, das friedlich wie ein tiefblauer Teppich unter seinem Boot dahin glitt.

Nach Tagen und Wochen jedoch kam plötzlich ein heftiger Sturm auf. Turmhohe Wellen peitschten gegen das Boot, zerschlugen es und warfen den Mann in das Meer. Noch eine Weile kämpfte er schwimmend mit den Elementen, bis er schließlich das Bewusstsein verlor. Doch Sturm und Meer fügten ihm kein Leid zu. Sie umarmten ihn nur und trugen ihn zu einem Strand.

Als er dort nach tiefer Bewusstlosigkeit erwachte, saß zu seinen Füßen die kleine Schwalbe und zwitscherte fröhlich. „Meinen Glückwunsch, du hast das Land erreicht, von dem ich dir erzählt habe.“

Da freute der Mann sich sehr, und er stand auf und machte sich auf den Weg, um das neue Land zu sehen und den Sagen umwobenen Baum zu finden, der ihn von seiner Krankheit heilen könne. - Und im Sonnenaufgang erblickte er sanft geschwungene grüne Hügel, auf denen Pflanzen wuchsen, die er niemals zuvor gesehen hatte. In allen Farben leuchteten ihre Blüten unter einem wolkenlosen Himmel, dessen Luft wie ein Seidentuch flimmerte und schimmerte. Ein hoher Berg in der Ferne schien in  blendend hellem Weiß bis in unendliche Höhen zu ragen, und seine Schneekristalle funkelten wie Milliarden von Diamanten.

Und der Mann sah Tiere, die er niemals zuvor gesehen hatte, die lagen friedlich nebeneinander auf den Wiesen oder sprangen fröhlich und leicht durch meterhohes Gras. Andere von ihnen waren groß wie Riesen, und wenn sie sich erhoben und hintereinander mit schweren Schritten über den Boden gingen, dann schien es, als bebe die Erde unter ihren Füßen, und wenn sie ihre Stimmen erschallen ließen, so klang es, als stießen sie in das Mundstück einer Trompete. 

Eins der wilden Tiere aber ging mit wiegenden Schritten auf ihn zu. Er war von beeindruckend großer Gestalt mit sanft hellem beige farbenen Fell, das an seinen Kopf zu einer wilden lockigen Mähne gewachsen war, die diesen wie eine Krone umrahmte. - „Willkommen, Fremder,  in der ersten Zeit“, sagte er zu dem Mann. Und als wisse er, wonach jener suchte, fuhr er fort: „Folge  mir, ich führe dich zu unserem heiligen Baum.“

Und der Mann fragte nicht, sondern ging einfach nur hinter ihm her.

Nach vielen Stunden erreichten sie ihr Ziel.

„Das“, sagte der Löwe, „ist unser heiliger Baum, der uns Nahrung und Medizin zugleich ist. In dieser unserer ersten Zeit noch kann er seine Kräfte entfalten. Eines Tages aber werden Schatten am Horizont auftauchen und über Täler, Berge und Savannen hinweg ziehen. Man wird uns Tiere jagen und töten, unsere Wälder abholzen, das Land auf der Suche nach Bodenschätzen zerstören und uns die friedliche Ruhe für immer nehmen. Die erste Zeit, die du heute noch siehst, wird dann nur noch Erinnerung sein - in der zweiten Zeit.“

Der Mann, der mittlerweile vom Baobab gekostet hatte, fühlte augenblicklich, dass die Kräfte wieder in seinen Körper zurückkehrten. Voller Dankbarkeit antwortete er dem Löwen: „Gewiss wird es dann auch eine dritte Zeit geben, eine, in der man sich sehnt nach der ersten Zeit, in der die Welt hier noch an den Garten Eden erinnerte, eine Zeit, in der man alles tun wird, um zurückzuholen, was einst war.“ - „Das, “ entgegnete der Löwe, „ist meine Hoffung: die dritte Zeit.“ - Mit diesen Worten neigte er sein Haupt zu einem Abschiedsgruß und lief mit weit ausholenden Schritten davon.

Lange dachte der alte Mann über die Worte des Löwen nach.

„Ich werde hier bleiben“, sagte er zu sich. „Vielleicht kommt sie doch nicht, die zweite Zeit. Wenn sie aber kommt, dann bleibe ich dennoch hier, und vielleicht gelingt es mir, mitzuhelfen, die Schatten zu vertreiben.“

Und er baute sich eine kleine Hütte in der Nähe des Baumes. Dort blieb er, und als die zweite Zeit und mit ihr die Schatten in das Land kamen, blieb er auch, beschützte den Baobab und wartete – auf die dritte Zeit.

 

                 

Fotos von mir: „Etwas Himmel über Schilf und Bäumen“ ,                „alter Baum im Park“