Jutta H.E. Krause / Jutta Krause: meine literarischen Impressionen

„Liebe Freundinnen und Freunde!

Wir haben nichts mehr zu lachen. Schluss mit den Parolen wider den tierischen Ernst!

Es ist nicht die Zeit zu lachen. Seien wir mal ehrlich: Wo gibt es denn noch etwas zum Lachen? Etwa, wenn die Politiker uns wieder einmal erzählen, dass sich viele Länder in schweren Wirtschaftskrisen befinden? Oder wenn wir erfahren müssen, dass die Schweinegrippe, Ebola und andere Viren die Menschen wie die Fliegen hinwegraffen?

Oder wenn die Medien berichten, dass wieder einmal ein Klimagipfel oder Friedensverhandlungen gescheitert sind?

Wenn doch wenigstens gescheitert etwas mit gescheit zu tun hätte, dann wären diese doch nicht ganz gescheitert.

Aber so…???

Nein, hier an diesem Ort  sage ich: Adieu, du Spiel- und Spaßgesellschaft! Und ich wiederhole es: Wir haben nichts mehr zu lachen.

 

Zu weinen aber gibt es viel, sehr viel und auch zu trauern.

 

Und so schlage ich vor: Lasst uns einen Weinklub gründen!

Ich denke mir das so: Wir kommen zusammen, zweimal in der Woche, zu einer ganz bestimmten Zeit und mit der entsprechenden Menge von  Papiertaschentüchern ausgestattet, schreiten wir zur Tat.

Wir weinen in allen Tonlagen, laut und hemmungslos, so dass sogar ein Krokodil neidisch werden könnte, welches ja bekannt ist für seine besondere Fähigkeit, die bekannten Krokodilstränen zu vergießen.

 

Wir weinen also und machen auch dem Namen unseres Klubs eine doppelte Ehre, indem wir viel von jenem edlen Getränk zu uns nehmen, welches bis auf zwei unbedeutende Buchstaben den gleichen Namen wie unsere Tätigkeit trägt. So begießen wir mit ihm unsere Seele, und wenn uns dann das heulende Elend übermannt, kann es vielleicht sein, dass sich so eine Katharsis einstellt. Heißt es doch schon bei Aristoteles: dass Trauer und Leid eine solche im Menschen bewirken.

 

Befreien wir uns von den Aufforderungen jener, die sich das positive Denken zum Leitstern erhoben haben. DIE klammern die Wahrheit aus und werden schon sehen, was sie davon haben.

Und somit, liebe Freundinnen und Freunde…“ ich hielt kurz inne in meinem Vortrag, ging auf eins der hohen Fenster der Turnhalle zu und öffnete es weit. Ein grauer verregneter Herbstabend drängte seine feuchte Luft in den Raum und untermalte die düstere Stimmung meiner Worte, bildete eine sinnvolle Ergänzung zu diesen.

„Und somit“, wiederholte ich, „liebe Mitglieder unseres Kegelklubs alle Neune, stelle ich den Antrag, unsere Aktivitäten auf ein anderes Gebiet zu verlagern, denn es ist nicht mehr die Zeit, unsere Energien mit überflüssigen Tändeleien zu vergeuden.“ Ich sammelte die am Start bereit stehenden Kegel in einem Wäschekorb und drückte jedem meiner acht Freundinnen und Freunde einen davon in die Hand: „Wer von euch mir zustimmt, der erhebe sich bitte und klopfe bitte zusätzlich mit seinem Kegel auf die Tischplatte. Also frage ich euch: Wer ist damit einverstanden, dass aus unserem Klub Alle Neune der Weinklub Tränenreich entsteht?“

Wie auf ein Stichwort hin erhoben sich alle, während laut, lange und in einstimmig gleichem Rhythmus das Kegelklopfen erschall, so laut, dass es einem heftigen Trommelwirbel glich.

An diesem Abend wurde der Grundstein für unseren Weinklub gelegt.

 

Inzwischen waren wir schon über zweihundert Mitglieder, und der Weinkeller, in welchen wir  unsere Zusammenkünfte abhielten, platzte schon fast aus den Nähten. Viele mussten auf Klappstühlen, in Fensterbänken oder sogar auf dem Boden sitzen.

Eins unserer Mitglieder, der Informatikstudent Leon, schaltete eine Homepage für unseren Klub. Da nicht alle von uns einen Internetanschluss besaßen, filmte er die HP mit seinem Smartphone und präsentierte sie uns bei der nächsten Zusammenkunft mit seinem Beamer auf einer Großleinwand.

Dort sah und hörte man uns in trauter Einigkeit bei einer unserer Versammlungen, schluchzend, heulend oder auch nur still und leidvoll Tränen vergießend, mit einem Glas Wein in der Hand gemeinsam die Welt und ihre Unbill beklagen. Über allem aber schwebte in schön geschwungenen Lettern der Titel  „Von guten Weinen lässt sich`s gut greinen. Der Weinklub Tränenreich lebt diese Erkenntnis auf seine Weise:   Im Weinkeller der Firma In Vino Veritas.“

Empörung und Aufruhr beantworteten diese Vorführung.

„Wir sind doch kein Klub von Alkoholikern!“, schrie der achtzigjährige Edmund. „ Wir sind reingefallen!“, kreischte meine Freundin Hertha, formte ihr Taschentuch zu einem Knäuel und warf es auf die Bühne, wo es direkt vor Leons Füßen landete. Diesem Beispiel folgten alle anderen Mitglieder. Eine Flut von zu Bällen geformten Taschentüchern bombardierte Leon, der schließlich unter dieser weinend zusammenbrach.

 

Doch niemand bemitleidete ihn. Im Gegenteil: Nicht nur musste er dieses Traktat von einer Homepage umgehend löschen, sondern wir schlossen ihn auch aus unseren Klub aus.

 

Um in Zukunft aber einen derartigen Missbrauch unserer Ideen zu Werbezwecken zu verhindern, suchten wir uns einen neuen Ort für unsere Treffen. Diesen fanden wir im Gemeindesaal der Kirche Lacrima, deren Pastor auch manchmal mit dazukam.

Das Weintrinken aus aktuellem Anlass aber wurde in Anbetracht der Pietät des Ortes von uns auf ein Mindestmaß reduziert.

Mittlerweile hatten wir auch eine Satzung erstellt.

Deren Text sei an dieser Stelle wörtlich wiedergegeben.

Vorwort: Der Weinklub e.V. hat es sich zur Aufgabe gemacht, Menschen unterschiedlicher Herkunft und Nationalität zusammenzuführen in einem gemeinsamen Ansinnen: Die klärende reinigende Wirkung des Weinens zu beleben.

§ 1, Absatz 1: Lachen ist verboten. Zuwiderhandlungen werden mit einer Geldbuße von 200 Euro belegt.

Absatz 2: Bei einem so genannten Lachkoller erfolgt der sofortige Ausschluss aus unserem Klub.

§ 2, Absatz 1: Jedes Mitglied sollte sich darum bemühen, aus seinem Alltagsleben tragische Situationen darzulegen und  diese vorzutragen.

Absatz 2: Die zuhörenden Mitglieder sind verpflichtet, in gebührender Art und Weise tränenreich den Vortrag zu begleiten.

§ 3, Absatz 1: Ein jedes Mitglied ist ferner verpflichtet, zu den Zusammenkünften eine kleine Metallschale bei sich zu tragen, in welcher es seine Tränen zu sammeln hat.

Absatz 2: Diese ist nach der Zusammenkunft in den am Ausgang des Saales bereit stehenden Tränenkübel zu leeren, um unser Projekt Tränenbrunnen zügig voranzutreiben.

Absatz 3: Es ist untersagt, die geweinten Tränen mit nach Hause zu nehmen, da sie unterwegs trocknen oder aber den Blicken von Unbefugten ausgesetzt werden könnten.

Absatz vier: Die ausreichende Menge an Papiertaschentüchern für die Riechorgane hat jedes Mitglied selbst mitzubringen.

§ 5, Ergänzung zu §1: Unser Klub ist multikulturell. Da er einzig auf seine Ziele ausgerichtet ist, gibt es keine herrschende Amtssprache, und ein jeder Vortragender kann seine ureigenen Tragödien in seiner Muttersprache darlegen.

§ 6: Unser Verein wählt alle zwei Monate einen neuen Vorstand, welcher aus drei Weinobersten und einem Vertreter besteht. Die Wahl erfolgt durch Handaufheben. Die einfache Mehrheit genügt.

§ 7: Der Mitgliedsbeitrag ist in Naturalien zu erbringen, das bedeutet, dass ein jedes Mitglied zu den Zusammenkünften eine Flasche Weißwein mitzubringen hat.

 § 8: Um den Mindestpromillegehalt nicht zu überschreiten und der Würde des Ortes Rechnung zu tragen, ist einem jeden Mitglied nur ein Glas Wein gestattet. Hierbei muss es sich um ein Weinglas handeln, Becher und andere Behältnisse sind verboten.

§ 9: Der in den mitgebrachten Flaschen verbliebene Wein ist nach dem Ende der jeweiligen Sitzung in den Tränenkübel zu füllen.

 

Meine Nichte Irina, die Tochter meiner Schwester Martha,  erlebte just zu dieser Zeit ihren ersten Liebeskummer. Ihr Schwarm Ingo hatte sich nämlich dazu entschieden, sie gegen die neue Mitschülerin Kathi einzutauschen.

Martha suchte mich eines Tages auf und unterbreitete mir ihr Anliegen: „Ihr habt doch da so einen Klub, in dem nur geheult wird. Ich finde, du solltest Irina einmal dort mit hinnehmen. . Da könnte sie sich mal so richtig ausjammern,  und  ich hätte zu Hause nicht immer die Maleschen mit ihrer Heulerei. Gemeinsames Leid ist schließlich auch geteiltes Leid.“

Ich war von Anfang an skeptisch bei diesem Vorschlag, aber Martha ist meine einzige Schwester und auch älter als ich. Wie konnte ich ihr den Wunsch also abschlagen?

„Einen Versuch ist es ja immerhin wert“, dachte ich mir und erlaubte Irina schließlich, mich zu unserem nächsten Klubtreffen zu begleiten. Wie vereinbart, erschien sie mit einer Tränenschale und mehreren Päckchen Papiertaschentüchern.

An diesem Tag stand ein ganz besonderer Vortrag auf dem Programm: